European-American Evangelistic Crusades

             
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Die Perspektive der Gemeinde


 
von Arthur Burk
 
Die Kirchengeschichte ist im Grunde eine Geschichte der Veränderung. Die Gemeinde wurde von Gott dazu geschaffen, für jede Facette der sie umgebenden Kultur eine wirksame Kraft der Veränderung zu sein. Die Gemeinde sollte sowohl hier und jetzt, in Raum und Zeit, Veränderung bewirken als auch Veränderung hervorbringen, die Einfluss auf die Ewigkeit hat. Doch zusätzlich zu den Veränderungen, die die Gemeinde bewirken soll, gibt es noch eine zweite Schicht der Kirchengeschichte, und zwar die internen Veränderungen. Gott nimmt als Reaktion auf die Gegebenheiten in der sie umgebenden Kultur notwendige Feinjustierungen und Neuausrichtungen innerhalb der Gemeinde vor. In diesem Bereich gibt es dann diejenigen, die diese Veränderungen innerhalb der Gemeinde herbeigeführt haben, die Personen in der Gemeinde, die als Katalysator für diese Veränderungen fungierten. Es gibt diejenigen, die diesen katalytischen Personen nachgefolgt sind und die Veränderungen angenommen haben und fast unvermeidlich sind da auch diejenigen innerhalb und außerhalb der Gemeinde, die energisch jeder Veränderung Widerstand geleistet haben, die Gott in der Gemeinde und
durch die Gemeinde herbeizuführen versucht hat.
 
In dieser Abhandlung soll es um die Veränderungen in der westlichen Gemeinde in den Anfangsjahren des 21. Jahrhunderts gehen. Wir wollen aber zuerst einen Blick auf die Vergangenheit werfen. Wir müssen erkennen, dass es mindestens vier Methoden gibt, durch die Gott
innerhalb der Gemeinde Veränderung bewirkt bevor er Veränderung durch die Gemeinde bewirkt.
 
Die bekannteste Methode ist wohl die der Veränderung durch dynamische Führer. Wenn wir zum Beispiel auf die Zeit der protestantischen Reformation zurücksehen, dann sehen wir Personen wie Jan Hus, Martin Luther, Johannes Calvin und John Knox. Jeder dieser Männer war ein dynamischer Führer und brachte einen gewaltigen Teil seiner Persönlichkeit in der Gemeinde selbst zur Geltung und später dann durch die Gemeinde auf die Kultur. Gott hat historisch gesehen immer wieder dynamische Führer gebraucht um Veränderungen in der Gemeinde sowie durch die Gemeinde herbeizuführen.
 
Ein zweites Werkzeug, das Gott zum Bewirken von Veränderung benutzt, sind Ideen. Die Urgemeinde war sehr zufrieden mit der Tatsache, dass sie nur aus Juden bestand und für Juden da war. Doch Gott führte mit starkem Nachdruck die Idee ein, dass die Gemeinde auch für Nichtjuden da ist und dass Nichtjuden denselben Zugang zu Gott haben können und sollen wie die Juden. Diese Idee bewirkte Veränderung in der Gemeinde und durch die Gemeinde. Eine weitere bedeutsame Veränderung in der Kirchengeschichte war die damals radikale Idee, dass jeder Gläubige die Bibel in seiner eigenen Sprache zur Verfügung haben sollte.
 
John Wyclif, der Morgenstern der Reformation, übersetzte daraufhin die Bibel in die englische Sprache. Martin Luther übersetzte die Bibel ins Deutsche und König Heinrich VIII war Gottes interessante Wahl der Person für die Verteilung der englischen Bibel, die ursprünglich von Tyndale übersetzt worden war. Es war König Heinrich VIII, der für die Verteilung dieser Bibel in allen Gemeinden Englands sorgte, mit der ausdrücklichen Bedingung, dass sie in der Gemeinde an einem für jedermann zugänglichen Ort ausgelegt wurde. Das war eine Idee, die einen verändernden Einfluss zunächst
innerhalb der Gemeinde und dann durch die Gemeinde auf die Gesellschaft draußen hatte. Martin Luther führte die Idee der Priesterschaft aller Gläubigen ein. Das führte zu einer gewaltigen Transformation innerhalb der Gemeinde. William Carey und etwa hundert Jahre vor ihm bereits die Herrnhuter führten die Idee wieder neu ein, dass die Weltmission der Verantwortung der Gemeinde obliegt. Das war für die damalige Zeit eine radikale Vorstellung und William Carey wurde mit dieser Auffassung von der Ortsgemeinde entschieden zurückgewiesen, die damals nicht in der Lage war, diese Idee anzunehmen. Doch die Idee schlug trotzdem Wurzeln und veränderte radikal die Kirche Englands, welche im Gegenzug mit diesem großen Jahrhundert der Mission die Welt berührte. Eine weitere Idee, die in der Gemeinde Veränderung bewirkte, kam mit William Booth und seiner Heilsarmee. Er vertrat die Ansicht, die Gemeinde müsse das Werkzeug sein, das die sie umgebende Kultur verändert und so brachte er die Gemeinde auf die Straßen und erzeugte Veränderung zunächst in der Gemeinde und dann durch die Gemeinde in der Gesellschaft.
 
Ein drittes Mittel, durch das Gott Veränderung in der Gemeinde bewirkt, ist sozialer Umbruch. Es war die Verfolgung der Christen in Jerusalem und Umgebung, die schließlich zum unfreiwilligen Gehorsam der Gemeinde führte, endlich dem Missionsauftrag nachzukommen. Die Urgemeinde war ganz zufrieden damit, ihr Hauptquartier in Jerusalem zu pflegen und den Großteil ihrer Aktivitäten auf Jerusalem zu beschränken, also musste Gott soziale Unruhen benutzen um die Christen aus Jerusalem zu vertreiben und an die Orte zu gehen, an die er sie bereits zu gehen aufgefordert hatte. Auch in England war es die Christenverfolgung, die zu einer weitläufigen Verstreuung  englischer Visionäre und radikaler Denker führte, die daraufhin zunächst nach Holland und schließlich in großer Zahl auch in die Neue Welt kamen um die Nation zu bilden, die wir Amerika nennen. Der Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten hat ebenfalls zu großer Veränderung in der Gemeinde geführt, denn er polarisierte eine Glaubensgemeinschaft nach der anderen hinsichtlich der Frage, ob Sklaverei Gottes Willen entspricht oder nicht. Viele Glaubensgemeinschaften spalteten sich und mussten sich mit politischen und sozialen Fragen auseinandersetzen, über die sie noch nie zuvor nachgedacht hatten.
 
Und schließlich gibt es noch die Veränderung in der Gemeinde durch Gottes souveräne Intervention, wobei davon auszugehen ist, dass Menschen durch Gebet dieses Einwirken ausgelöst haben. Die beiden großen Erweckungen in der Geschichte Amerikas waren die Gebetstreffen der Geschäftsleute des vollen Evangeliums in New York und die Azuza-Street-Erweckung und dann gab es in jüngerer Zeit noch die Jesus-Bewegung. Während dieser Bewegungen standen natürlich auch einige Führer im Vordergrund, doch es waren nicht sie selbst, die diese Bewegungen hervorgebracht hatten, sondern Gott.
 
All die genannten Veränderungen sind in der Kirchengeschichte gut dokumentiert, weil sie deutlich präsent und sichtbar waren. Das ist so etwa als würdest du durch die Nachbarschaft spazieren und sehen, wie ein Nachbar sein Haus um einen Anbau erweitert, ein neues Dach errichtet, die Außenanlagen umgestaltet und zum guten Schluss noch seinem gesamten Haus einen neuen Anstrich verpasst. Das sind dramatisch sichtbare Veränderungen und sie sind leicht zu bemerken. Auch in unserer Generation gibt es solche leicht erkennbaren, sichtbaren Veränderungen. Sie sind vielleicht nicht ganz so dramatisch wie die vorhergehenden, doch auch wir haben neue Führer und Bewegungen aufkommen sehen, insbesondere
Calvary Chapel und Vineyard, wo innerhalb einer einzigen Generation etwas vom Konzept im Herzen eines einzelnen Menschen zu einer Bewegung expandierte, die in Amerika das Christentum stark beeinflusst hat und in einem geringeren Grad auch in der übrigen Welt. Auch ein paar neue Ideen haben wir erlebt. Die Fürbitte war sicherlich kein neuer Gedanke, doch sie wurde seit 1980 neu in die Hauptströmung des Leibes Christi eingeführt und das auf einer Ebene, die wir Jahrhunderte lang zuvor nicht gesehen hatten. Territoriale geistliche Kampfführung war auch zuvor eine mikroskopisch kleine Nische gewesen, die in der Vergangenheit der Kirchengeschichte nur von ein paar wenigen Personen besetzt war und mittlerweile in fast jeder Strömung des Leibes Christi zu Allgemeinwissen geworden ist. Das Thema Versöhnung ist zu einer dominierenden Idee in der Gemeindelandschaft geworden: Versöhnung zwischen Rassen, zwischen Geschlechtern, zwischen Generationen – unzählige Formen von Versöhnung sind im Gespräch gewesen. Und diese neuen Bewegungen, neuen Führer und Organisationen, die ihren speziellen Beitrag des Dienstes im Leib Christi erbringen, sind allesamt sichtbare Veränderungen, die in den letzten zwanzig Jahren auch in der Presse Beachtung fanden.
 
Ich möchte heute jedoch über ein paar
unsichtbare Veränderungen sprechen, die viel weiter reichende Auswirkungen haben. Denke einmal über die Plazenta nach. Wenn eine Frau schwanger wird, geschieht etwas Außergewöhnliches, denn ihr Körper bildet ein neues Organ. Alle übrigen Organe werden mit uns geboren und wachsen mit uns, doch in der Schwangerschaft muss der Körper einer Frau innerhalb von wenigen Wochen an einem unsichtbaren Ort quasi aus dem Nichts ein neues Organ erzeugen und doch ist dieses bemerkenswerte, unsichtbare Organ, das in so kurzer Zeit an verborgener Stelle gebildet wurde, in der Lage, neues Leben zu nähren. Und die letztendlichen Auswirkungen dieses neuen Menschenlebens auf Erden, das hier fast ein Jahrhundert verbringen wird, sind gewaltig. Die anfänglichen Veränderungen geschahen außer Sicht, ohne Fanfare und große Kommentare. Die meisten Leute wussten nicht einmal, dass die Frau schwanger war - und doch waren diese anfänglichen Veränderungen des Aufbaus der Stätte, die ein Leben erhalten sollte, das fast ein Jahrhundert lang auf dieser Erde leben und wirken würde, gewaltig.
 
Ich sehe vier Veränderungen, die Gott heute in der Gemeinde vornimmt und die zu dieser unsichtbare Kategorie gehören und die doch, so glaube ich, einen tieferen Einfluss auf den Leib Christi haben als die sichtbaren Veränderungen durch die letzten beiden neuen Glaubensgemeinschaften, die gebildet wurden und die neuen Ideen, die in den Hauptstrom des Leibes Christ eingedrungen sind.
 
1.) Der Leib Christi erlebt wie nie zuvor einen eingreifenden Gott.
 
2.) Ein immer höherer Prozentsatz von Gläubigen findet Einheit, Gemeinschaft und Beziehungen um den Kern momentaner Werte und nicht mehr um den Kern gemeinsamer Erinnerungen.
 
3.) Mehr Gläubige als zu jeder anderen Zeit in den Jahrhunderten seit der protestantischen Reformation übernehmen die Verantwortung für das eigene Wachstum.
 
4.) Mehr Gläubige als je zuvor übernehmen persönliche Verantwortung für ihre Mitwirkung im Dienst.
 
Auf den ersten Blick hört sich jeder dieser Punkte an, als wäre das doch die Normalität und hätte doch eigentlich immer schon so gewesen sein sollen. Die meisten Christen würden jeden dieser Punkte bejahen und jeder einzelne dieser Punkte würde von der institutionellen Gemeinde bestätigt und sogar begrüßt werden. Doch die Realität ist, dass diese vier Punkte kollektiv eine gewaltige Veränderung geschaffen haben – eine Veränderung wie das Bilden einer Plazenta, die das Leben eines neuen Menschen erhalten wird. Und die sekundären Resultate dieser vier Veränderungen werden das Fundament der westlichen Gemeinde radikal verändern. Es gibt diejenigen, die diese Veränderungen angenommen haben und es gibt unzweifelhaft auch diejenigen in der institutionellen Gemeinde, die stark negativ auf die Veränderungen reagieren, die von diesen vier Punkten herbeigeführt worden sind. Wir wollen uns daher jeden einzelnen im Detail ansehen.
 
Punkt 1

 
Zunächst einmal ist da das Thema des Erlebens eines eingreifenden Gottes. Zu Beginn des Jahrhunderts mit der Azuza-Steet-Erweckung wurde das Eingreifen Gottes insbesondere auf dem Gebiet von Heilungen und Wundern betont, bekam jede Menge Aufmerksamkeit in der Presse und wurde dann schließlich mit der Pfingstbewegung an den Rand gedrängt. Obwohl die Pfingstbewegung wuchs und sich ausbreitete, wurde sie von der Mehrheit des Restes des Leibes Christi argwöhnisch betrachtet. Man sah sie als Abweichung und nicht als die Norm und ganz sicher nicht als Modell für den Rest des Leibes Christi.
 
Ein halbes Jahrhundert später drängten die charismatische Erneuerung und das Aufkommen von
Calvary Chapel und Vineyard dieses Klischee gewaltig zurück und ein bedeutend höherer Prozentsatz des Leibes Christi öffnete sich der Vorstellung, dass die Erfahrung von Gottes Eingreifen im Leben des Christen die Regel sein sollte und nicht etwas für eine ganz besondere Person oder eine ganz besondere Gelegenheit oder ganz besondere Umstände. Doch der evangelikale Flügel des Leibes Christi betrachtete das ganze Panorama weiterhin nur aus der Ferne und erkannte nicht, dass ein eingreifender Gott in ihrer Theologie fehlte. Und ganz sicher war man dort nicht interessiert an der Zungenrede und Wundern und einigen prophetischen Aspekten der Pfingstbewegung und charismatischen Bewegung. Das wollte man in evangelikalen Kreisen nicht in seiner Mitte haben. Und doch hatte Gott die Absicht, sich selbst dem Leib Christi als ein eingreifender Gott nahe zu bringen.
 
So gebrauchte er zwei Baptisten namens Henry Blackaby und Claude King, die ein Buch mit dem Titel
Experiencing God (Gott erleben) schrieben. Was durch dieses Buch geschah, war dramatisch und obwohl es heute nicht länger in aller Munde ist wie Anfang der 1990er Jahre, hat es einen Abdruck auf dem Leib Christi hinterlassen, der sich nicht so leicht wieder entfernen lässt. Es gab damals ein massives, spontanes Brennen für dieses Thema. Das Buch wurde überall verkauft, von jedem in jeder Strömung des Leibes Christi gelesen und jeder schien diese Lehre anzunehmen. Plötzlich war das Erleben Gottes auch für die Evangelikalen etwas Normales. Sie konnten nun Gott erleben ohne diese Art von Manifestationen, derentwegen sie so große Bedenken hatten. Doch viel bedeutsamer als die reine Lehre – „Zungenrede oder nicht? Sind die Geistesgaben noch für heute oder nicht?“ – war die Tatsache, dass der durchschnittliche Mensch in der Kirchenbank nun glaubte, dass er nicht nur Gott erleben konnte, sondern dass er Gott erleben sollte.
 
Diejenigen, die ein losgelöstes, professionelles, theologisches und abstraktes Christentum mit einer Liste von Überzeugungen, jedoch ohne Interaktion mit Gott lebten, waren nun die Außenseiter, die an den Rand gedrängt wurden. Diese Verlagerung in den 1990er Jahren war gewaltig und kam durch ein souveränes Wirken Gottes, zum Ausdruck gebracht durch dieses Buch und seinen Inhalt. Die Hunderttausende von Menschen, die die Wahrheit gelesen und erlebt hatten, reduzierten erheblich was eine klare Trennlinie zwischen dem Weltlichen und dem Heiligen gewesen war. Man verstand nun, dass man Gott auch an Orten erleben konnte, die normalerweise nicht als religiös betrachtet wurden. Es löschte auch die Trennlinie zwischen Klerus und Laien. Man schaute nicht länger auf zum Pastor, der Gott für dich erlebte und dir dann davon erzählte. Jeder Laie konnte nun mit derselben Leichtigkeit, Klarheit, Freiheit und Beständigkeit Gott erleben wie die Geistlichen. Schließlich beseitigte das Ganze auch in erheblichem Maß die Trennlinie zwischen Evangelikalen und Charismatikern. Die Evangelikalen nahmen zwar nicht die Zungenrede oder die übrigen Geistesgaben an, aber man sprach nun eine gemeinsame Sprache: Gott war definitiv ein eingreifender Gott. Der durchschnittliche Gläubige war nun längst nicht mehr so abhängig vom Programm der institutionellen Gemeinde wie bisher. Er konnte Gott zu Hause, am Arbeitsplatz und in vielen anderen Situationen erleben; es musste nicht mehr unbedingt im Rahmen und innerhalb der Struktur einer Versammlung in der Ortgemeinde sein.
 
So gut das Konzept eines eingreifenden Gottes auch ist, so brachte diese Erkenntnis auch einige negative Folgen mit sich. Einerseits verstärkte sie die grundlegende menschliche Neigung, Erfahrung mit Inhalt gleichzusetzen. So kam es zu einer Generation von Menschen, die nach Gefühlen trachten. Ihnen fehlt die geistliche Disziplin, die in der institutionellen Gemeinde vor fünfzig Jahren noch normal war und wir haben nun eine Generation, die wahre Geistlichkeit mit Erfahrung gleichsetzt. Gott wusste im Voraus, dass dies eine negative Nebenwirkung der neuen Erkenntnis sein würde, aber er schenkte sie dem Leib Christi trotzdem. Wegen all der Menschen, die nun auf der Suche nach einer Erfahrung sind, haben viele institutionelle Gemeinden leider versucht, ihnen wöchentlich dieses Erlebnis zu bieten, um diese Leute bei der Stange zu halten. Auch das ist eine sehr ungesunde Anomalie. Es mangelt nun an der Grundlage, die ein Christ im Wort Gottes haben sollte und an der Disziplin, die den Charakter aufbaut. Eines der vorherrschenden Merkmale des Anfangs dieses Jahrhunderts ist das Streben der Gläubigen nach einem Erlebnis.
 
Das Endresultat dieses ersten Punktes, den Gott in die Gemeinde eingebracht hat, ist, dass die Verbindungen zwischen dem einzelnen Gläubigen und der institutionellen Gemeinde geschwächt wurden. Sie wurden nicht zerstört, sondern nur geschwächt, denn plötzlich wurde deutlich, dass die Gemeinde nicht länger unentbehrlich für jemanden ist, dem es mit seinem Glauben ernst ist. Es wäre tatsächlich möglich, ein hingegebener und effektiver Christ zu sein ohne das alles im Kontext der institutionellen Gemeinde tun zu müssen.    
 
Punkt 2

 
Der zweite, grundlegende Punkt, der den Leib Christi in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren geformt hat, ist die Tatsache, dass Gläubige sich mit anderen Gläubigen zusammenfinden aufgrund ihrer aktuellen Werte und nicht mehr aufgrund ihrer gemeinsamen Erinnerungen.
 
Die gemeinsame Erinnerung ist historisch immer die Basis für eine soziale Einheit gewesen. Wenn Menschen nichts weiter gemeinsam haben als Erinnerungen ist dieses „nichts weiter als“ genug, um sie zusammen zu halten. Viele Menschen besuchen noch nach Jahrzehnten irgendwelche Klassentreffen. Eine Schulklasse besteht aus sehr unterschiedlichen Charakteren und oft haben wir unsere Klassenkameraden gar nicht mal besonders gemocht, doch die gemeinsamen Erinnerungen sind ausreichend um diese Leute wieder zusammen zu bringen, wobei oft sogar kaum Kosten und Mühen gescheut werden, nur um einen Abend mit diesen Menschen zu verbringen und mit ihnen über alte Erinnerungen zu sprechen.
 
Militärgruppen, die in Übersee gemeinsame Einsätze gehabt haben, neigen dazu, sich regelmäßig zu treffen um in ihren Erinnerungen zu schwelgen. Es gibt ganze Organisationen, die für solche Gruppen Begegnungsmöglichkeiten organisieren, obwohl die Beteiligten eigentlich Fremde sind.
 
Selbst in Familien sind die gemeinsamen Erinnerungen das, was sie am stärksten zusammenhält. Als der verlorene Sohn nichts mehr hatte, blieb ihm immer noch die Erinnerung an sein Zuhause und diese Erinnerung war ausreichend um ihn zurück zu ziehen zu seinem Vater. Ein weiteres gutes Beispiel sind die Jesus People. Es gab eine große Anzahl von jungen Menschen, die in einem religiösen Zuhause groß geworden waren, diese Religion jedoch ablehnten und später Jesus fanden, doch sie konnten sich immer noch an diesen Sonntagsschullehrer oder eine andere Person erinnern, die mit Gott lebte und diese gemeinsamen Erinnerungen halfen, diese Menschen zurück zu Jesus zu ziehen. Und unter dem alten Paradigma waren unsere gemeinsamen Erinnerungen mit der Gemeinde, in der schon unsere Eltern aufgewachsen waren, ein sehr starker Leim, der uns zusammen hielt. Diese Gemeinde zu verlassen bedeutete, auch diese Beziehungen hinter sich zu lassen und das war sehr schwierig. Ihre Erinnerungen hielten viele Menschen in der gewohnten Ortsgemeinde fest.
 
Ich kann mich noch daran erinnern, wie es war, als ich meine letzte Pastorenstelle verlassen habe. Es kam mir fast vor wie eine Scheidung. Ich blickte auf diese Menschen und sah die Trauungen, die ich vorgenommen hatte und die Babys, die ich gesegnet hatte, die Ehepartner, die ich begraben hatte, die Neubekehrten, die ich getauft hatte. Ich dachte an die Kinder und ihre lustigen Spiele während der Weihnachtsfeiern. Ich dachte an den Tag, an dem die Gemeinde überschwemmt worden war. All diese Erinnerungen waren Dinge, die wir gemeinsam hatten und obwohl es richtig und nötig und angemessen war, dass ich gekündigt hatte, war das Weggehen von diesen gemeinsamen Erinnerungen dennoch eine schwere Erfahrung.
 
Das ist lange Zeit die Norm gewesen in unserer Kultur und auch in unserer Gemeinde-Kultur. Aber nun haben wir ein neues Paradigma und Gott in der einen oder anderen Form erlebt zu haben wurde zum neuen Lackmustest, zur kulturellen Abgrenzung. Und es war mehr ein Punkt, der verbindet, als einer, der polarisiert. In der Vergangenheit waren theologische Themen wie „Entrückung vor, während oder nach der Trübsal“, „Geistesgaben – ja oder nein?“ die Grundlage, aufgrund derer man jemanden ablehnte oder annahm. Jetzt geht es darum, ob man Gott erlebt hat. Mehr und mehr geht es anderen Gläubigen in dieser Kultur nicht mehr um den theologischen Rahmen, sondern viel mehr um das Maß und die Art und Weise, wie jemand mit Gott lebt. Und wo es ein Leben mit Gott gibt, werden theologische Themen generell nicht einmal näher erkundet. Und so kann ein Presbyter enge Gemeinschaft mit jemandem aus einer Vineyard-Gemeinde haben, basierend auf der Gemeinsamkeit ihrer Erfahrungen mit Gott, obwohl ihre Theologie Welten trennt.
 
So kann man also eine drastische Verlagerung dahingehend beobachten, wie Menschen sich mit anderen Gläubigen zusammentun und zwar geschieht das viel stärker auf der Basis der aktuellen Werte der Erfahrungen mit Gott als auf den sozialen Erinnerungen, die ihre Eltern und Großeltern zusammen gehalten haben. Dazu kommen noch drei kulturelle Faktoren, die diese Verlagerung enorm beschleunigen. Einer davon ist unser Trieb nach Unmittelbarkeit. Das Erlebnis der letzten Woche ist den meisten heutigen Gläubigen weitaus bedeutsamer als die zusammen genommenen Erlebnisse der letzten fünf Jahrhunderte. Und so hat sich das rein säkulare Phänomen der Unmittelbarkeit, eines Kurzzeitgedächtnisses, einem Greifen nach dem Sofortigen, vermengt mit dem geistlichen Phänomen und es dadurch viel stärker gemacht als es gewesen wäre wenn Henry Blackabys Buch die Gemeinde vor fünfzig Jahren beeinflusst hätte.
 
Zudem hat die Unterweisung in territorialer geistlicher Kampfführung den Leib Christi auf sehr effektive Art und Weise etwas über Einheit gelehrt. Und so ist seit etwa 1985 in der Gemeinde zunehmend für Einheit gebetet worden, wobei viele Menschen sich darunter die Zusammenarbeit von Ortsgemeinden in gemeinsamen Projekten vorgestellt haben. Diese gibt es auch in einem Maß, das es vor 15 Jahren noch nicht gab, aber ich glaube nicht, dass sich Gott so die Antwort auf dieses Gebet vorgestellt hat. Vielmehr glaube ich, dass Gott die Antwort auf dieses Gebet so sieht, dass er uns zunächst auf die Graswurzelebene bringt, wo Menschen damit zufrieden sind, Beziehungen mit Gläubigen aus anderen Gemeinden zu haben. So etwas passierte vor 40 Jahren einfach nicht. Wenn du ein Methodist warst oder ein Baptist, dann warst du mit deinen eigenen Leuten zusammen. Du hattest Gemeinschaft mit Menschen aus deiner Glaubensgemeinschaft und eine Heirat über die Grenzen der Glaubensgemeinschaft hinweg konnte sich zu einer sehr schwierigen Angelegenheit entwickeln.
 
Heutzutage ist die Homogenität der Ortsgemeinde verschwunden. Gott hat die Gebete Zehntausender von Gläubigen erhört, die Millionen und Abermillionen von Gebeten für Einheit in der Gemeinde, die zu ihm aufgestiegen sind und es ist heute unmöglich, eine Gemeinde zu finden, die im Hinblick auf ihre Theologie homogen ist. Da findet man Baptisten in der Pfingstgemeinde und Menschen mit einem pfingstlichen Hintergrund bei den Presbytern und jede mögliche andere Kombination. Da gibt es eine unglaubliche gegenseitige Befruchtung, da Gott die Gebete der Gemeinde dadurch beantwortet hat, dass er Einheit auf der niedrigsten Ebene – dem kleinsten gemeinsamen Nenner – geschaffen hat. Nun, einige Pastoren sind noch nicht dahinter gekommen und darum sehr aufgebracht über das neue Phänomen eines Mangels an Loyalität gegenüber der Ortsgemeinde. Doch dieser Mangel an Loyalität kommt daher, dass sie für Einheit gebetet haben und dass Gott dieses Gebet auf eine Art und Weise beantwortet hat, die sie sich nicht vorgestellt haben.
 
Der Drang nach Unmittelbarkeit und der vom Geist angetriebene Impuls nach Einheit haben also dafür gesorgt, dass Menschen sich auf eine Art und Weise in Grüppchen zusammenfinden, wie sie es nie zuvor getan hätten und sich dabei oft von den gemeinsamen Erinnerungen ab- und den gemeinsamen Erfahrungen zuwenden.
 
Es gibt aber noch einen dritten kulturellen Faktor, der diese Verlagerung beeinflusst hat und das ist die Verfügbarkeit von preiswerten Fernverbindungen sowie e-Mail und Internet. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte ist Kommunikation so preiswert und so leicht verfügbar gewesen und nie zuvor war der Fundus an verfügbaren Personen so immens. Per e-Mail bin ich nahezu kostenlos in Verbindung mit dem Großteil der Welt und jeder, der irgendwo auf der Welt e-Mail hat, kann mit mir in Kontakt treten – und das tun die Leute auch. Die Generation unserer Eltern dagegen wuchs noch mit dem Erleben auf, dass ein Ferngespräch mit einem Verwandten am anderen Ende der Nation eine große Sache war. Da musste man die drei Minuten verfügbare Gesprächszeit im Voraus gut planen. Heute sind Ferngespräche und Internetnutzung spottbillig und es gibt einen gewaltigen Fundus an verfügbaren Menschen, unter denen du Gleichgesinnte finden kannst, die nur zu gerne deine Erfahrungen mit dem allmächtigen Gott mit dir teilen.
 
Und so beschränken sich unsere Verbindungen nicht länger nur auf eine Handvoll von Leuten, die wir in der Gemeinde an der Ecke treffen; vielmehr gibt es da Gleichgesinnte, die über die ganze Stadt, das ganze Land oder womöglich sogar über die ganze Welt verstreut sind. Es ist ein wechselseitiges und sofortiges Teilen von Freude und Leid.
 
Das Ganze hat sowohl Vorteile als auch Nachteile. Der Vorteil ist, dass das Leben viel dynamischer und spannender geworden ist als es noch vor 30 Jahren war. Es ist viel leichter, Gleichgesinnte zu finden, wenn man aus so einem großen Fundus schöpfen kann. Das Finden von Gleichgesinnten hat etwas Begeisterndes an sich und man kann sich gegenseitig bereichern. Das bringt in den Leib Christi eine Begeisterung, Elektrizität und Dynamik hinein, die ich nicht erlebt habe als ich der Pastor einer im Großen und Ganzen in sich geschossenen Gemeinde war. Es gibt jedoch auch Nachteile und einer davon ist, dass ein Hang zu weniger Tiefe in den Beziehungen zu verzeichnen ist, weil die aufgebauten Beziehungen viel selektiver sind. Es ist leichter, eine e-Mail-Beziehung fallen zu lassen als sich mit jemandem von Angesicht zu Angesicht über Unstimmigkeiten auseinanderzusetzen. Und die Lebendigkeit, die wir in diesen neuen Beziehungen sehen, verbirgt oftmals eine gewisse Oberflächlichkeit. Man hat auch viel weniger Wissen über die grundlegende Theologie der Gemeinde und Menschen, deren Triebfeder die Erfahrungen sind, können dazu neigen, von jedem Wind der Lehre hin und her geweht zu werden.
 
Diese ganze Entwicklung schwächt erheblich die Verbindung zwischen dem einzelnen Gläubigen und seinem Pastor. Du erlebst Gott und er begegnet deinen Bedürfnissen ohne ein Programm der Gemeinde. Wenn du dir nun auch noch innerhalb des Leibes Christi selbst deine Freunde aussuchst statt den vorhandenen Fundus der Ortsgemeinde zu akzeptieren, dann bedeutet das, dass in erster Linie andere Laien deinen Nöten begegnen und nicht der Pastor. In der Vergangenheit war es in unserer Kultur normal, dass bei einem Notfall in der Familie einer der allerersten Anrufe an den Pastor ging. Er wurde als derjenige gesehen, der in einer Krisensituation deinen Nöten begegnete. Die meisten Gläubigen heute mit dem Konzept von einem eingreifenden Gott und einem Netzwerk von Freunden rufen zuerst ihre Freunde an bevor sie ihren Pastor anrufen, wenn sie ihn denn überhaupt anrufen.  
 
Punkt 3

 
Es gibt einen dritten Punkt, der aus den beiden vorherigen entspringt und das ist die persönliche Verantwortung für das geistliche Wachstum. Gott erleben kann man auf unzählige Art und Weise. Für einige ist es ein wunderbares Gefühl in ihrem Gebetskämmerlein. Für einige ist es das Berühren Gottes im Lobpreis. Für andere ist es das Erleben der Kraft Gottes im Dienst. Wieder andere empfinden das Erleben Gottes wenn er ihren persönlichen Bedürfnissen und Nöten begegnet. Doch das Konzept eines eingreifenden Gottes eröffnete weite, neue Gebiete um diesen Bedürfnissen und Nöten zu begegnen. Befreiung und innere Heilung sowie der Dienst an Babys im Mutterleib kamen während dieser Zeit an die Front, ebenso wie das Brechen finanzieller Gebundenheiten für Einzelpersonen und Unternehmen sowie die Heilung von Ehen, körperliche Heilung und das Brechen von Süchten.
 
All diese Dinge sind nun ein fester Bestandteil der Arbeit der Gemeinde – und das weil all diese Dinge zusammengefasst sind in diesem Konzept eines eingreifenden Gottes. Nöte, die man vor Jahren einfach ertrug oder durch weltliche Maßnahmen bekämpfte, sind jetzt plötzlich Nöte, die im geistlichen Kontext und von dem Gott, dem wir dienen, gelöst werden können. Vor diesem Hintergrund findet man Gemeinden auf einer ziemlich ausgedehnten Bandbreite. Am einen Ende der Skala sind diejenigen, die einfach keine Theologie der Heilung annehmen konnten oder deren Theologie auf diesem Gebiet noch sehr unausgereift ist. Dann gibt es jene, die ihre Leute einfach nur lehren, mehr Glauben zu haben und alles wird funktionieren und dann gibt es die, die darauf beharren, dass man einfach nur das Fleisch kreuzigen muss und alle Probleme verschwinden. Das sind die Gemeinden, die den individuellen Dienst untereinander missbilligen. Dann gibt es noch die Gemeinden, die an einen eingreifenden Gott und all diese Dienste glauben und so krampfhaft versucht haben, jede nur denkbare Form von Dienst in ihrer Gemeinde anzubieten, so dass ihre Schäfchen dort all ihre Bedürfnisse wie in einem gigantischen Supermarkt erfüllt bekommen können.
 
Auch hier gibt es wieder einen kulturellen Faktor, der auf diese Entwicklung Einfluss genommen hat und das ist die Tatsache, dass wir zunehmend zu einer narzisstischen Kultur werden. Unser Gefühl von Wohlempfinden entspringt heute einer Abwesenheit von Schmerz während es in der Vergangenheit von der Qualität unseres Beitrages zur Gesellschaft abhing. Das Pionierdenken war darauf ausgerichtet, etwas aufzubauen, es als Beitrag an die Allgemeinheit zu hinterlassen und das Ganze damit brauchbarer für die nächste Generation zu machen.
 
Nicht alle Dienste, nicht alles Wachstum und nicht alle Heilung haben Menschen mit einem Denken hervorgebracht, das dem Reich Gottes angemessen wäre. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die angeblich die Verantwortung für ihr eigenes Wachstum übernehmen, in Wirklichkeit aber nach Bequemlichkeit streben und nicht nach Reife und Befähigung. Dennoch war der Übergang immens und das Netzwerk gleich gesinnter Freunde wurde zur Quelle des Dienstes. Dahin ist der Drang, sich an die Ortsgemeinde zu wenden, damit man dort den Bedürfnissen des Einzelnen begegnet. Dahin ist der Versuch, innerhalb der Glaubensgemeinschaft die Lösung für ein spezielles Problem zu suchen. Stattdessen wissen die Menschen der heutigen Generation, dass sie nur einen oder zwei Freunde weit davon entfernt sind, genau das zu finden, was sie brauchen oder wollen. Und wenn du niemanden in deinem eigenen Netzwerk hast, der genau für dein Problem eine besondere Salbung hat, dann kennt aber jemand aus deinem Netzwerk jemanden, der jemanden kennt, an den du dich wenden kannst. Der Drang geht also dahin, sich wegen einem Dienst an den Leib Christi als Ganzes zu wenden und nicht an die Institution Gemeinde. Dadurch sind bedeutsame übergemeindliche Dienste entstanden, aber eine gewaltige Menge an Hilfen und Diensten wird auch durch Einzelpersonen ohne eine hinter ihnen stehende Organisation geleistet.
 
Die Gemeinde hat damit wirklich zu kämpfen gehabt. Du kannst einem Fürbitter keine Lizenz erteilen oder ihn qualifizieren. Du kannst deinen Sonntagsschullehrer trainieren und überwachen, doch wie willst du verhindern, dass Martha bei Nina anruft weil sie ein Gebetsanliegen hat? Wie kannst du Menschen daran hindern, außerhalb der örtlichen Institution Gemeinde danach zu suchen, dass ihren Nöten begegnet wird? Es ist unmöglich.
 
Und so war die Folge dieses Punktes, dass die sichtbare, institutionelle Gemeinde im Denken und Empfinden vieler Gläubiger ent-legitimiert wurde weil sie nicht länger bereitstellen konnte was sie brauchten. In der Vergangenheit hatte die Gemeinde ein Monopol auf Gott. Jetzt treffen sich Menschen außerhalb der Gemeinde statt in der Gemeinde und erleben Gott oftmals besser ohne den Plan und das Programm der institutionellen Gemeinde. Nun können sie oft Zuwendung und Unterstützung leichter außerhalb der Ortsgemeinde finden. Dafür mussten sie lediglich ein Netzwerk gleich gesinnter, christlicher Freunde aufbauen. Und letztlich fanden sie die benötigte Nahrung im Leib Christi als Ganzem, die ihnen die Ortsgemeinde entweder nicht geben konnte oder wollte.
 
An diesem Punkt bleibt der institutionellen Gemeinde primär die Geschichte, einst eine rechtmäßige, bedeutsame, Leben spendende, katalytische Institution gewesen zu sein, die von Gott gebraucht wurde. Doch immer mehr moderne Christen haben ein Problem mit dem Widerspruch zwischen der regelmäßigen Betonung der Gemeinde, wie wichtig sie doch sei und der Realität, dass ihr lockeres Netzwerk aus Freunden in ihrem eigenen Leben sehr viel bedeutsamer war als die Gemeinde.
 
Punkt 4

 
Das alles machte Punkt 4 zu einer natürlichen Folge, denn als die Leute anfingen, von Freunden aus ihren Netzwerk Dienst zu empfangen, entwickelten sie auch die persönliche Verantwortung, ihrerseits zu dienen und andere geistlich zu nähren. Viele haben zum eigenen Wohlergehen Heilung gesucht und gefunden und sind an dem Punkt stehen geblieben, doch viele andere sind weiter gegangen. Zunächst haben sie einen eingreifenden Gott kennen gelernt, dann haben sie sich gleich gesinnte Freunde gesucht, von diesen Freunden Dienst empfangen und dann freudig und spontan anderen in ihrem Umfeld gedient.
 
Das hat zu gewaltigen Konflikten mit der Ortsgemeinde geführt. Für einige lag der getane Dienst völlig außerhalb ihrer Theologie. Andere ärgerten sich über die Tatsache, dass diese selbständigen Dienste zwar das Reich Gottes ausbauten, aber nicht unbedingt die Ortgemeinde. Oftmals bewegten sich diese visionären Personen in der Gemeinde viel zu schnell, so dass ihnen Struktur und Bürokratie der Ortsgemeinde nicht folgen konnten. Oft fanden diese Leben spendenden Visionäre sogar Anhänger in der Gemeinde, was bei der Leiterschaft in der institutionellen Gemeinde ein Gefühl von Verletzlichkeit und Unsicherheit auslöste.
 
Das Endergebnis sah so aus, dass das Thema Legitimität zu einem primären Schlachtfeld innerhalb der Gemeinde wurde. Die institutionelle Gemeinde versuchte, ihre Legitimität theologisch zu bewahren und gleichzeitig die Einzelpersonen zu de-legitimieren, die etwas taten, was die Institution nicht absegnen konnte. Der Fairness beiden Seiten gegenüber muss gesagt werden, dass eine ganze Menge Fleischlichkeit in das Ganze involviert war. Viele Gemeindemitglieder haben ihren Pastor wegen jeder tatsächlichen und vermeintlichen Klage rücksichtslos angegriffen. Viele, die erst kürzlich eine neue Facette der Gnade Gottes kennen gelernt hatten, ließen ihrerseits keinerlei Gnade gegenüber ihrem Pastor walten, die es ihm erlaubt hätte, selbst auch zu wachsen. Oft haben verärgerte Personen innerhalb der Gemeinde nach anderen verärgerten Personen in der Gemeinde gesucht und ihre Anklagen gegen die Leiterschaft der Ortsgemeinde gebündelt, was zu Spaltungen geführt hat.
 
Andererseits haben sich Pastoren nur allzu oft von Gemeindemitgliedern einschüchtern lassen, die sich nicht als von ihnen abhängig erwiesen. Unter Geschäftsleuten gibt es ein Sprichwort, das besagt: „Ein erstklassiger Mann stellt einen erstklassigen Mann ein, aber ein zweitklassiger Mann stellt einen drittklassigen Mann ein.“ Leider hatten wir Männer auf unseren Kanzeln, die es verunsichert hat, wenn sie Personen in den Reihen ihrer Gemeindemitglieder fanden, die ihrerseits Führungsqualitäten hatten. Es gab viele einfache Gemeindemitglieder, die verzweifelt versucht haben, ihren Pastor in einem guten Licht dastehen zu lassen. Sie kamen mit einem guten Charakter, mit guten Motiven und mit Integrität. Sie kamen, um dem Pastor zu helfen, die Schafe zu hüten. Doch die Pastoren reagierten entweder mit Furcht und versuchten, bis ins kleinste Detail alles selbst zu leisten oder sie versuchten, diese Leute dahin zu bringen, die Gemeinde in ihren unproduktiven Programmen zu unterstützen statt Menschen mit Nöten zu dienen.
 
Aufgrund dieser Polarisation haben die Pastoren eine Theologie der Legitimität entwickelt und versucht, Menschen zu zwingen, sich der Souveränität der Gemeinde zu unterwerfen. Doch diejenigen, die Gott erlebt hatten, über ein Netzwerk von gleich gesinnten Freunden verfügen, Verantwortung für ihre eigenen geistliche Ernährung übernehmen und danach hungern, anderen zu dienen, haben darauf nur allzu oft reagiert indem sie die Gemeinde verlassen haben. So gingen den Ortsgemeinden gerade die besonders wertvollen Visionäre verloren.
 
Die Theologie der Legitimität

 
Und so müssen wir einen sehr sorgfältigen Blick auf diese Theologie der Legitimität werfen, denn sie ist das Herzstück des Kampfes im nächsten Stadium des Übergangs der Gemeinde in unserer Kultur. Die Theologie der Legitimität wird durch vier grundlegende Konzepte ausgedrückt:
 
1.)Gott hat die Gemeinde geschaffen.
2.)Er hat geistliche Leiter eingesetzt und diesen Leitern Laien unterstellt.
3.)Deshalb liegt die Gemeinde richtig in dem, was sie tut und
4.)die Laien sollten ihren Leitern folgen und keine unangemessene Initiative zeigen.  
 
Das ist eine grobe Vereinfachung der Theologie der Legitimität der institutionellen Gemeinde. Die Argumentation enthält jedoch fünf Fehler, mit denen wir uns vertraut machen müssen. Zunächst einmal verwechselt man hier das Ziel und die Mittel. Wir müssen ganz klar verstehen, dass Gottes Absicht in unserem Zeitalter nicht darin besteht, die Gemeinde zu bauen. Gottes Absicht ist es, das Reich Gottes zu bauen – und das Reich Gottes hat bereits vor dem Gemeindezeitalter existiert, es existiert während des Gemeindezeitalters und auch noch nach dem Zeitalter der Gemeinde. Das Ziel von Christus ist es, alle Reiche dieser Erde unter seine Herrschaft zu bringen und dann sein Reich an das Reich des Vaters zu übergeben. Das Reich Gottes ist das zentrale Thema, nicht die Gemeinde. Die Gemeinde ist ein Mittel zum Zweck, ein Werkzeug, das Gott gebraucht und gebrauchen möchte um die Arbeit des Reiches Gottes zu tun. Genau wie Israel wird die Gemeinde einen speziellen, fortdauernden Stand haben. In der Ewigkeit werden wir eine klar umgrenzte Gruppe unter den anderen Bewohnern des Himmels sein. Doch das bedeutet nicht, dass wir der Knotenpunkt von Gottes Zielen sind. Der Knotenpunkt von Gottes Zielen in diesem Zeitalter ist das Werk
durch die Gemeinde um das Reich Gottes zu bauen. Er ist nicht interessiert am Aufbau der Gemeinde um ihrer selbst willen.
 
Das ist genau dieselbe Auseinandersetzung, die Jesus mit den Juden seiner Tage über den Sabbat hatte. Immer wieder rückte er in den Fokus, ob nun der Sabbat für den Menschen oder der Mensch für den Sabbat gemacht sei. Sollte sich der Mensch auf eine bestimmte Art und Weise verhalten um dem Sabbat zu dienen? Und in den Augen des religiösen Geistes jener Tage lautete die Antwort „Ja“. Doch Jesus sagte: „Nein auf keinen Fall!“ Gott gab den Sabbat zum Nutzen des Menschen.
 
Gleichermaßen argumentiert das Denken der religiösen Geister der heutigen Zeit: „Weil Gott die Gemeinde geschaffen hat, muss die lokale, institutionelle Ortgemeinde um jeden Preis bewahrt und geehrt werden.“ Dem widerspreche ich. Ich glaube, dass die Gemeinde ein Produkt hervorbringen soll und kein fortwährender Abflussgraben sein soll. Die Gemeinde wurde geschaffen um effektiv zu sein, nicht nur um durch eine Art Lebenserhaltungsmaschine zu existieren.
 
Der zweite Fehler an der Argumentation ist die Verwechslung von Form und Wesenskern. Der Wesenskern ist, dass „die Gemeinde“ im Sinne von „der Leib Christi“, von dem Jesus Christus das Haupt ist, aus ALLEN Gläubigen besteht. Ob es dir gefällt oder nicht: dieser Gläubige, der keinerlei Ortsgemeinde besucht, IST ein Teil der universellen Gemeinde, die Jesus Christus als die Gemeinde anerkennt. Die Ortsgemeinde, diese Gruppe von Leuten, die sich am Sonntagmorgen um 10.00 Uhr in einem Gebäude an der Ecke treffen, hat kein Monopol auf die Bezeichnung „Gemeinde“ obwohl unsere Kultur die Sprache dem entsprechend gebraucht.
 
Genau wie Jesus Christus die Nation Israel als sein Bundesvolk nehmen, für 70 Jahre aus dem Land entfernen und die Arbeit im Reich Gottes dennoch fortführen konnte, so kann er auch ohne die Manifestation der Ortsgemeinde an der Ecke weitermachen und sowohl die Gemeinde als auch das Reich Gottes werden trotzdem weiterhin existieren. Die Gemeinde, das sind alle Gläubigen. Die Ortsgemeinde ist in erster Linie eine Verpackung, ein Ausdruck, eine Form und darf nicht mit jenem Organismus verwechselt werden, von dem Jesus Christus das Haupt ist.
 
Die Argumentation der Theologie der Legitimität der Gemeinde verwechselt drittens Berufung mit Bewährung. Israel war berufen zu einer herausragenden Position unter den Nationen der Welt. Das war definitiv ihre Berufung und das Volk berief sich beständig auf seine Berufung als die Basis seiner Legitimität. Und sowohl im Alten als auch im Neuen Testament waren sie schockiert als Gott sagte: „Obwohl ihr berufen seid, habt ihr euch nicht bewährt. Obwohl ihr berufen seid, habe ich dermaßen die Nase voll von eurer Sünde, dass ich euch disziplinieren werde. Ich werde euch eine zeitlang aus eurer Stellung im Mittelpunkt nehmen.“ Gott hat dasselbe Recht, seinen Einsatz der Ortsgemeinde zurückzuziehen wenn sie nicht länger effektiv ist. Berufung und Bewährung sind zwei unterschiedliche Dinge. Ja, die Ortsgemeinde ist dazu berufen, Salz und Licht zu sein. Aber nein, Gott ist nicht daran gebunden, die Ortsgemeinde zu gebrauchen wenn sie aufhört, Salz und Licht zu sein und „die Gemeinde“ (der Leib Christi) wird weiterhin existieren, selbst wenn Gott seine Gnade von einer oder mehreren Ortsgemeinden zurückgezogen hat.  
 
Viertens werden Privileg und Arbeitsplatzsicherheit verwechselt. Das Privileg, das die Gemeinde hat, ist, dass Gott gerne durch die Ortsgemeinde arbeiten und wirken möchte. Das ist sein Plan A. Doch Gott gibt keine Garantie dafür, dass die Gemeinde diese privilegierte Position behält wenn sie es versäumt, zu tun wozu er sie berufen hat.
 
Die Urgemeinde ist wahrscheinlich das deutlichste Beispiel hierfür. Zweifellos gab Gott den Aposteln den Auftrag der Weltmission, doch sie versäumten es, diesem Auftrag nachzukommen. Sie blieben in Jerusalem und rüsteten die Menschen nicht zur Weltevangelisierung aus und obwohl sie das Privileg hatten, den ersten Missionsauftrag und Zugang zur größten Salbung hierfür empfangen zu haben, hatten sie keine Arbeitsplatzsicherheit. Als die apostolische Gruppe in punkto Weltevangelisation kläglich versagte, überging Gott sie still und leise und wandte sich den Laien zu, die absolut keinen apostolischen Segen und keinerlei apostolischen Schutz oder apostolische Aufsicht hatten. Gott gebrauchte ein normales Gemeindemitglied um dem Kämmerer aus Äthiopien zu dienen, er gebrauchte Laien, die zu den Samaritern gingen und es waren Laien, die zu den Heiden in Antiochia gingen und dort eine lebendige Gemeinde gründeten. Gott zwang Petrus, mit dem Thema der Heiden klarzukommen und nach dieser Situation mit Kornelius kam Petrus sehr gehorsam nach Jerusalem zurück und berichtete: „Ja, Gott will, dass Heiden gerettet werden.“ Doch genauso schnell wälzte er die Aufgabe ab an Paulus als Petrus sich weigerte, am Ball zu bleiben und für die Heiden der Apostel zu sein, zu dem Gott ihn berufen hatte. Die Tatsache, dass er dieses Privileg hatte, bedeutete nicht seine absolute Arbeitsplatzsicherheit.
 
Der Beginn des Zentrums der modernen Mission geschah durch einen Laien: William Carey. Er sprach mit der Leiterschaft der Gemeinde. Die Gemeinde hatte das Privileg, diese neue Entwicklung – oder vielmehr die Neuentdeckung der Gemeindemission – anzuführen, doch sie weigerte sich, die Sache anzupacken. Daraufhin überging Gott sehr schnell die Führer der Gemeinde und gebrauchte einen Laien, der ohne Autorität, Schutz und Verantwortungsübertragung seitens der Gemeinde hinging und die Arbeit tat, zu welcher Gott ursprünglich die Gemeinde berufen hatte.
 
Es ist also sehr wichtig, folgendes zu verstehen: Ja, die Ortsgemeinde
hat das Privileg, nach dem Willen Gottes Plan A zu sein um das Werk Gottes zu tun. Doch Gott hat ihr kein Monopol darauf gegeben, wenn sie es versäumt, ihre Aufgaben in Angriff zu nehmen. Und Gott wird definitiv außerhalb der Struktur der institutionellen Gemeinde wirken um seinen Willen auszuführen wenn die institutionelle Gemeinde nicht bereit ist, ihren Aufgaben nachzukommen.  
 
Das führt uns nun zum Kern des Ganzen – zum fünften Fehler in der Argumentation. Diejenigen, die sich auf die Legitimität der Ortsgemeinde berufen, die in ihren Augen wichtiger ist als alles andere, verwechseln ihre Rechte mit ihren Pflichten.
 
Merksatz: Wo auch immer jemand um seine Rechte kämpft, erfüllt er gewöhnlich seine Pflichten nicht.
 
Dies gilt, egal ob wir es mit einer Einzelperson, einer Regierung, einer Nation, einer sozialen Struktur, einem Unternehmen oder einer Gemeinde zu tun haben.
 
Was ist die Pflicht und Verantwortung der Gemeinde? Ganz einfach ausgedrückt: das Ausrüsten von Gläubigen (siehe Epheserbrief). Viel zu viele Gemeinden fokussieren sich auf das, was sie für die Pflichten der Gläubigen halten, die Gemeinde mit Personal zu besetzen. Frage: Wenn eine Ortsgemeinde nicht produktiv ist, d.h. wenn sie keine ausgerüsteten Gläubigen hervorbringt, warum sollten dann die Gläubigen die angebliche Pflicht haben, diese Gemeinde am Leben zu erhalten? Die Ortsgemeinde ist nicht „die Gemeinde“ (Leib Christi) unter dem Haupt Jesus Christus. Die Ortsgemeinden, die nicht produktiv sind und ihre Pflichten nicht erfüllen, sind verzichtbar.
 
Es gibt viele Menschen, die von der Gemeinde erwarten, zum Glücklichsein ausgerüstet zu werden und nicht zum opferbereiten Dienst. Es gibt viele Gemeinden, die versuchen, dieser Erwartung nachzukommen. Viele Leute kommen in die Gemeinde und erwarten, mehr zu bekommen als sie geben und schon rein mathematisch bedeutet das, dass irgendjemand draufzahlt und mehr geben muss als er bekommen kann. Und so wird die moderne Gemeindestruktur nur allzu leicht ein Ziel in sich selbst. In der durchschnittlichen, institutionellen Gemeinde gibt es gerade genügend inspirierende Personen um diejenigen zu unterstützen, die selbst keine inspirierenden Menschen sind - und dieses Ungleichgewicht kommt schnell zum Erliegen wenn auch nur eine der inspirierenden Personen weggeht oder wenn ein paar weitere fordernde Leute dazukommen.
 
Ich betone es noch einmal: die Aufgabe der Gemeinde ist es, Mitglieder der königlichen Priesterschaft hervorzubringen, Mitglieder, die von ihren Befähigungen her gut ausgerüstet sind zum Dienst, die in der Welt dienen können und nicht nur im Schutzraum der Ortsgemeinde. Wir brauchen Mitglieder der königlichen Priesterschaft, die als selbständige Lebensspender ihrem Umfeld Salz und Licht sein können. Und das können sie auch ohne die Unterstützung und Aufsicht der Ortsgemeinde.
 
Solche Männer und Frauen waren die Frucht der Urgemeinde. Die Urgemeinde hat diese Art von Menschen hervorgebracht und sie waren es, die ohne die Leiterschaft und finanzielle Unterstützung der Gemeinde in Jerusalem nach Antiochia gegangen sind. Es waren diese Leute, die nach Rom gegangen sind und sogar mit dem Evangelium von Jesus Christus in den Palast von Kaiser Augustus vordrangen – und das alles ohne die enge Aufsicht und die emotionale, finanzielle oder geistliche Unterstützung der apostolischen Kern-Leiterschaft. Es waren diese Menschen, die in den ersten drei Jahrhunderten der Gemeinde an Zehntausende anderer Orte gingen. Ja, es gab geistliche Leiter wie Paulus, die in einigen Gebieten den Weg bahnten. Ja, es gab apostolische Leiter, die einige Gemeinden gründeten, doch weit, weit mehr wurde in der Urgemeinde von Laien mit guter Dienstbefähigung geleistet, die Leben und Licht weitergaben und in der Welt im Wort dienen konnten. Das ist es, was die frühe Gemeinde so explosiv gemacht hat.
 
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